· Katharina Kunze · Psychologie · 4 min read
Die Geschichte von einem Zirkuselefanten
Eine bewegende Geschichte über Selbstbegrenzung, alte Muster und den Mut, an den eigenen Pflock zu ziehen.

Die Geschichte von einem Zirkuselefanten
„Als ich ein kleiner Junge war, war ich vollkommen vom Zirkus fasziniert, und am meisten gefielen mir die Tiere. Vor allem der Elefant hatte es mir angetan. Wie ich später erfuhr, ist er das Lieblingstier vieler Kinder. Während der Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier sein ungeheures Gewicht, seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur Schau. Nach der Vorstellung aber, und auch in der Zeit bis kurz vor seinem Auftritt, blieb der Elefant immer am Fuß an einen kleinen Pflock angekettet. Der Pflock war allerdings nichts weiter als ein winziges Stück Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwer war, stand für mich ganz außer Zweifel, dass ein Tier, das die Kraft hatte, einen Baum mitsamt der Wurzel auszureißen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflock befreien und fliehen konnte.
Dieses Rätsel beschäftigt mich bis heute.
Was hält ihn zurück?
Warum macht er sich nicht auf und davon?
Als Sechs- oder Siebenjähriger vertraute ich noch auf die Weisheit der Erwachsenen. Also fragte ich einen Lehrer, einen Vater oder Onkel nach dem Rätsel des Elefanten. Einer von ihnen erklärte mir, der Elefant mache sich nicht aus dem Staub, weil er dressiert sei.
Meine nächste Frage lag auf der Hand: „Und wenn er dressiert ist, warum muss er dann noch angekettet werden?“
Ich erinnere mich nicht, je eine schlüssige Antwort darauf bekommen zu haben. Mit der Zeit vergaß ich das Rätsel um den angeketteten Elefanten und erinnerte mich nur dann wieder daran, wenn ich auf andere Menschen traf, die sich dieselbe Frage irgendwann auch schon gestellt hatten.
Vor einigen Jahren fand ich heraus, dass zu meinem Glück doch schon jemand weise war, die Antwort auf die Frage zu finden:
Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühester Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist. Ich schloss die Augen und stellte mir den wehrlosen neugeborenen Elefanten am Pflock vor. Ich war mir sicher, dass er in diesem Moment schubst, zieht und schwitzt und sich zu befreien versucht. Und trotz aller Anstrengung gelingt es ihm nicht, weil dieser Pflock zu fest in der Erde steckt. Ich stelle mir vor, dass er erschöpft einschläft und es am nächsten Tag gleich wieder probiert, und am nächsten Tag wieder und am nächsten …
Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnisvollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt. Dieser riesige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der Ärmste glaubt, dass er es nicht kann. Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt. Und das Schlimme dabei ist, dass er diese Erinnerung nie wieder hinterfragt hat. Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen.“
(Quelle: Komm, ich erzähle dir eine Geschichte, Jorge Bucay, 2012, Verlag Fischer)
Oft ist es im Leben ähnlich. Auch wir tragen Erfahrungen und Muster in uns, die uns daran hindern, das Offensichtliche zu erkennen, dass wir heute stärker sind als früher, dass wir Möglichkeiten haben, die wir damals nicht hatten.
Darum ist es wichtig, die eigenen Probleme nicht nur zu ertragen oder zu verdrängen, sondern sie aktiv anzugehen. Schwierigkeiten sind nicht nur Hindernisse, sie können auch Herausforderungen sein, an denen wir wachsen und reifen. Indem wir sie Schritt für Schritt lösen, stärken wir uns selbst und entwickeln neue Fähigkeiten.
Gleichzeitig gibt es Dinge im Leben, die wir nicht ändern können. Sie anzunehmen, statt gegen sie anzukämpfen, ist ebenso ein Teil von innerer Stärke. Es geht darum, mit dem Unveränderbaren einen Umgang zu finden und zugleich den Mut zu bewahren, andere Verhaltensmuster auszuprobieren, offen für Veränderung zu bleiben und sich nicht entmutigen zu lassen.
Es lohnt sich, an den eigenen Pflock zu ziehen, vorsichtig, neugierig, mit Mut. Vielleicht zeigt sich dabei, dass die Begrenzung längst nicht mehr so fest ist, wie wir dachten. Die Vergangenheit bleibt unveränderbar, doch sie bestimmt nicht, was jetzt und in Zukunft möglich ist.
Veränderung geschieht, wenn wir uns erlauben, alte Überzeugungen loszulassen, Neues zu erproben und in Bewegung zu bleiben, auch wenn es Rückschläge gibt. Jeder Mensch hat die Chance, Muster zu durchbrechen, die einmal sinnvoll oder notwendig waren, die uns heute aber klein halten.
In diesem Bewusstsein entsteht Freiheit. Die Freiheit, ein Leben zu gestalten, das nicht länger von alten Ketten bestimmt wird, sondern von den Entscheidungen, die wir jetzt treffen und von der Bereitschaft, Herausforderungen anzunehmen, Neues zu wagen und Schritt für Schritt immer nach vorne zu gehen.


